MANDELSTAM LACHT
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Wenn die Dinge zu sprechen und zu tanzen anfangen:
Der letzte Band der Werkausgabe des großen russischen Dichters
von: Hanns-Josef Ortheil
aus: www.zeit.de, 2000
Hat Ossip Mandelstam gelacht? Ja, wirklich? Hat er? Seine Frau Nadeschda Mandelstam
schreibt, dass er sehr gern gelacht habe und Scherze gemacht, vor allem im Beisein von
Anna Achmatowa. Und Anna Achmatowa erinnert sich und bestätigt, dass sie mit
niemandem so gut gelacht habe wie Mandelstam, ja dass in dem kleinen Zimmerchen, das
sie bewohnte, oft ein ganzes Lachgelage entstanden sei und es den Anschein gehabt
habe, als sei Mandelstam zu ihr gekommen, um sich für einen Monat im voraus satt zu
lachen.
Ossip Mandelstam hat also gelacht, der letzte und zehnte Band der von Ralph Dutli mit
großer Sorgfalt herausgegebenen Werkausgabe des Ammann Verlages enthält Kinder-
und Scherzgedichte und kleine, ironische Epigramme auf Zeitgenossen, die Texte und
Atmosphären von Mandelstams Lachen also, vorgetragen von einem bisher noch
weitgehend unbekannten Mandelstam, dem Mandelstam der Lachgelage, wo das Absurde
neben dem reinen Blödsinn bestehen durfte und die Worte einander ansteckten und sich
krümmten und bogen.
Dem Übersetzer und Kommentator Ralph Dutli muss es schwer gefallen sein, bei all
diesen Texten ernsthaft zu bleiben, aber er hält auch im letzten Band der schönen zehn
Bände an seinen gewissenhaften und aus den Weiten Russlands herbeizitierten
Erläuterungen fest, so viele Dichterinnen und Dichter scharen sich selbst noch hier um
Mandelstams Verse, als habe man sie alle gebeten, auch zu diesen sich harmlos
gebenden Zeilen ihre Vorläufer- oder Nebenherläuferschaft zu beweisen. Plötzlich ist die
russische Literatur voller kindbegeisterter, humorvoller oder auch komisch-überdrehter
Menschen, die versuchen, ihr Bestes an Lachhaftem und Lachbarem zu geben.
Dann erzählt Boris Pasternak aus Lüwers' Kindheit, Andrej Belyi versetzt sich in die
Gedankenwelt eines Kleinkindes und imitiert tollkühn-modern einen kindlichen
Bewusstseinsstrom, Welimir Chlebnikow lauscht der Kinderakustik nach, und Daniil
Charms schreibt seine kurzen, absurden Geschichten für Kinder, die gleich anfangen,
seine Geschichten weiterzuerzählen. Es ist, als seien die ersten Jahrzehnte des 20.
Jahrhunderts für die russische Literatur heitere und glückliche Jahre gewesen und als
hätte die Ausgelassenheit der Dichter keine Grenzen gekannt.
Da man es aber nun einmal besser weiß und die schrecklichen Jahre und das schreckliche
Ende all dieser Dichter kennt, fasst man sich an den Kopf, wird gleich wieder ernst und
versenkt sich in Mandelstams Kindergedichtbücher. Mitte der zwanziger Jahre konnten sie
noch in russischen Verlagen erscheinen und hatten Titel wie Der Primuskocher, Die beiden
Trams, Luftballons oder Die Küche. Die meisten kreisen um Dinge und Gegenstände des
russischen Alltags, um Dinge, die Kindern ganz nahe sind und mit denen sie Tag für Tag
leben.
Auf dem Tisch steht dann etwa der Primuskocher, man staunt und fragt sich, was ein
Primuskocher wohl sein könnte, und sofort erklärt einem Ralph Dutli in seinen
allwissenden Erläuterungen, dass es sich beim Primuskocher um einen Wärme
spendenden Kerosinkocher der Marke Primus handelt, der in Mandelstams späterem
Nomadenleben noch eine große Rolle gespielt habe. Jetzt ist klar, warum der
Kerosinkocher in dem kleinen Kindergedicht auseinander genommen wird, er ist krank, er
funktioniert nicht mehr, man muss Wasser reinschütten, der Primusdoktor muss kommen
und ihn reparieren.
Schauen, gucken, auseinander nehmen, zusammensetzen – das sind die ersten Regeln,
die Mandelstam dem Kinderumgang mit den kleinen Dingen abgeschaut hat. Und nun
bemüht er sich, diese Regeln auch zu Regeln seiner Kinderpoetik zu machen, und
deshalb darf jetzt gleich so etwas sonst Unauffälliges wie weiße Wäsche in den Blick
geraten, weiße Wäsche ist ja etwas Wunderbares, und da hat Mandelstam auch gleich
zwei gute Zeilen für sein Weiße-Wäsche-Gedicht, ganz einfach und unmittelbar
einleuchtend: „Ich hab die Wäsche so gern, / Das weiße Hemd ist mein Freund ...“
Jetzt sind wir ganz nah dran an den Dingen, mit fast schon mikroskopischem Auge,
tastend, fühlend, sodass in die Gedichte die kleinsten Beobachtungen des Kinderauges
einziehen können, etwa die, wie sich rohe Milch, wieder etwas wunderbar Weißes, in
abgekochte Milch verwandelt, wie sie erbleicht und plötzlich alle staunen, wie weich sie
werden kann während des Abkochens, schwebend-weich beinahe, und wie sie sich dann
doch strafft und sich eine Haut zulegt, eine feste, dehnbare Abwehrhaut, obenauf.
Solche Kinderlebnisse bringt Mandelstam in acht kurzen Zeilen zusammen,
Beobachtungen, eine kleine Verwandlung, das Staunen, und es ist, als könnte die weiße
Milch nun eine Geschichte erzählen.
So vibriert es auf dem Küchentisch vor unseren Kinderaugen, denn jetzt hat auch der
erwachsene Leser Kinderaugen und vertieft sich ins Kleinste, das nun in die Hand
genommen werden will, während die Brennholzscheite in die Küche gebracht werden:
„Wie sie krachen, diese Stücke, / Schön gespalten werden solls – / Kiefer, Tanne,
Birkenholz!“ Der Holzduft ist nun also da, in einer Zimmerecke warten die
Gummischuhgaloschen abwesend-sinnend auf ihren Einsatz im Regen. Dann tanzt ein
rosiges Birkenscheit im Feuer, und es werden „Pfannkuchen! Pfannkuchen“ gebacken,
„Gebacken werden – oh, wie schön – / Morgens schon im Sonnenblumenöl“, und die
Wäsche wird im Riesenkessel gekocht, schauen wir gleich mal hinein: „Es bläht sich ein
Tischtuch / Als Stör in dem Schwall / Und schwimmt wie ein Weißlachs / Als Kugel, als
Ball.“
Jetzt ist die ganze Küche belebt, ein Sinnenreich ohnegleichen, und Brotmesser und
Essmesser geraten an den Schleifstein, und es kocht der Samowar, und die Blätter des
schwarzen Tees klingeln im Döschen wie ... ja, wie? „So wie Nägelchen“ und locken: „Also
kommt schon, liebe Gäste, / Teezeit jetzt, fühlt euch daheim, / Mich, den duftenden,
geschätzten / Werft in diese Kanne rein!“
Daher ist das Kinderfest vollkommen, die Dinge sprechen, tanzen, und man sieht
Mandelstam wahrhaftig mittendrin, einen kleinen, sich auf der Stelle drehenden Mann,
lachend, ja, doch: Mandelstam lacht!
Dieses Lachen aber ist noch das Lachen Mitte der zwanziger Jahre, später wird
Mandelstam keine Kindergedichte mehr schreiben, denn schon wenig später wird er für
einige Jahre ganz verstummen und überhaupt keine Gedichte mehr schreiben. Die
Vorzeichen seines Verstummens und seines dann bis zum tödlichen Ende dauernden
Kampfes mit dem Sowjetregime aber sind schon in den so lebensfroh hellen
Kindergedichten versteckt, etwa in dem von den Luftballons, wo der grüne Luftballon
Kummer kriegt „vom großen Rabauken, vom schrecklichen Roten, dem Großkopf, dem
Lauten“, oder in dem von den beiden Trams, wo sich die eine Tram auf die Suche nach
der befreundeten anderen macht, die Klik heißt, was im Russischen so viel bedeutet wie
„Zuruf, Ausruf, Schrei“. Hinten, im Anmerkungsteil, erklärt einem Ralph Dutli dann, dass
dieser Schrei in Wahrheit einem Freund Mandelstams galt, der 1921 in Petrograd als
angeblicher „Konterrevolutionär“ erschossen worden war und der ein Gedicht geschrieben
habe mit dem Titel Die verirrte Trambahn.
Und, sich in diesen Anmerkungen festlesend, bekommt man sehr genau, aber gar nicht
pedantisch erklärt, dass die Alltagsgegenstände, die Mandelstam in seinen Kindergedichten
besang, in den Gedichten seiner späten, in Verbannung und Arbeitslagern durchlittenen
Jahre wiederkehren, als die traurig besungenen Gegenstände der Not, als Insignien der
Klage.
Seinen Spott und sein Lachen hat Mandelstam in diesen späten Jahren nicht mehr mit
den Kindern geteilt, er hat sein Lachen in kleinen Scherzgedichten aufbewahrt oder in
Epigrammen auf Zeitgenossen bezogen. Sie machen den zweiten Teil dieses Bandes aus,
und man versteht sie als Nachhall auf ein Leben, das sich auf diese Weise gegen alle
Widerstände trotzig behauptete und versuchte, die Nähe zu den anderen, zu den
Freunden und Weggefährten, zu erhalten.
Liest man diese Gedichte so, also mit einem wissenden Blick, entsteht mit ihnen die
Figurengalerie einer Biografie, und man schaut, notgedrungen selbst immer trauriger
werdend, auf all diese kleinen Szenen, die in ihrer Fröhlichkeit meist unterbrochen oder
abgebrochen werden, als legte sich Mandelstam manchmal einen Finger auf den
flüsternden Mund.
Aber sie sind da, die Freundinnen, die Freunde. Anna Achmatowa ist da und Alexander
Blok, der Nachhilfelehrer Motschulskij, der Ägyptologe Schilejko und der Maler Lew Bruni.
Sie treten in Petersburger Künstlerkneipen oder in Moskauer Stadtszenen auf, sie
huschen, torkeln und stolpern durch die mit dunklen Hintergründen versehenen Skizzen
von Mandelstams Gedichten. Bis die letzte Freundin erscheint, Natascha Schtempel. „Da
kommt Natascha. Wo war sie? / Sie hat doch nichts getrunken, wie? / Und Mama wittert,
schwarz wie die Nacht: / Sie riecht nach Wein und Zwiebeln, ach!“
Natascha Schtempel war eine der wenigen Freundinnen, die die Mandelstams im
Verbannungsort Woronesch noch hatten. Später nahm sie auf der Flucht vor den
deutschen Truppen jenen Notizblock mit, auf dem Mandelstam seine letzten Gedichte
notiert hatte. Kurz vor ihrem Tod hat sie sich 1987 an ihn zu erinnern versucht, daran etwa,
dass Ossip Emiljewitsch seine Scherzgedichte oft beim Tee geschrieben habe und zwar
meist dann, wenn sie Anstalten gemacht habe aufzubrechen. Natascha Schtempel
bestand in ihren Erinnerungen darauf, dass sie Zwiebeln nicht ausstehen konnte und dass
sie auch nie ein besonderes Vergnügen am Wein trinken gefunden habe. Ossip
Mandelstam, erinnerte sich Natascha Schtempel, habe das natürlich sehr genau gewusst.
Und doch habe er genau das Gegenteil geschrieben, lachend, Ossip Mandelstam habe
eben nicht aufhören können zu lachen.
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Ossip Mandelstam
Romanautor, Lyriker,
Essayist, Biograph,
Übersetzer und Herausgeber