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MEIN WEIBLICHER BRUDER
Marina Zwetajewa
Mein weiblicher Bruder
Brief an die Amazone.
Übertragung aus dem Französischen und
Nachwort von Ralph Dutli.
Matthes & Seitz Verlag, München 1985
(Neuausgabe 1995)
Der 1932 im Pariser Exil entstandene, nicht in Marina Zwetajewas Muttersprache
Russisch, sondern in französischer Sprache geschriebene, an Natalie Clifford Barney
adressierte Brief an die Amazone hinterfragt das Scheitern einer lesbischen Liebe (die
Marina Zwetajewa in ihrem Leben mit zwei Frauen erfuhr: Sofia Parnok und Sonja
Holliday). Es ist ein Text über Sappho, die große Dichterin von der Insel Lesbos, über alle
Liebenden der Weltliteratur, über die Rolle des Kindes in der Welt, des Kindes als der
„angeborenen Habe“.
Textprobe
„Alles zu sagen haben – und die Lippen nicht aufzutun. Alles zu geben haben – und die
Hand nicht aufzutun. Es ist Verzicht, was Sie eine bürgerliche Tugend nennen und was –
mag es bürgerlich sein oder nicht, mag es Tugend sein oder nicht – die wichtigste
Triebfeder meiner Handlungen ist. Triebfeder? – der Verzicht? Ja, denn das
Zurückdrängen einer Kraft verlangt eine unendlich strengere Bemühung als ihre freie
Entfaltung – die keinerlei Bemühung verlangt... Was ist schwieriger: ein Pferd zu halten
oder es springen zu lassen, und – da wir es sind, dieses von uns gehaltene Pferd – was ist
mühseliger: zurückgehalten zu sein oder unsere Kraft auszuspielen? Zu atmen oder nicht
zu atmen? Erinnern Sie sich an jenes Kinderspiel, wo dem die Ehre zukam, der am
längsten in einer Truhe ersticken konnte? Ein grausames Spiel und recht wenig
bürgerlich.“
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