Meine kleine Englische Suite
Ich habe einen Defekt, der vielleicht nur ein Respekt ist. Die sogenannt eigenen Gedichte sind mir nicht eigener und näher als die vermeintlich fremden und fernen, die ich in meine Sprache übertragen habe. Ich werde von gewissen Texten bewohnt, das ist alles. Ob eigene, ob fremde, ist gleich-gültig. Das ist ein Bekenntnis zu einem schamanistischen Verständnis der Poesie.
Die Übertragung von Lyrik ist für mich eine hochgradig erotische Angelegenheit – ein Wunsch und ein Weg, sich dem Fremden auszusetzen und es anzunehmen, durch das Fremde hindurch ins Eigene zu gelangen, das einem dann getrost fremd werden kann. Beim Übertragen von sogenannt „Fremdem“ ist mir das ach so kostbare Ich fragwürdig geworden. Genau das wollte ich abbilden, als ich in meinen Gedichtband Notizbuch der Grabsprüche (Rimbaud Verlag 2002) scheinbar zufällig auch sogenannte Übertragungen einstreute, drei Variationen auf Kaiser Hadrians Sterbegedicht „Animula“ (138 n. Chr.) und das „Kuß-Sonett“ (Nr. 18) der französischen Renaissance-Lyrikerin Louize Labé (1525–1566), zwei Gedichte von John Donne (1572–1631), Der Floh und „Aufgehende Sonne“, und eines von George Herbert (1593–1633): „Love“, das bei mir unter dem Titel erscheint: Eat me George.
Die englischen Metaphysical Poets des 16./17. Jahrhunderts sind eine meiner liebsten poetischen Drogen. Gerade sie haben mich verführt, die Grenzen des eigenen Wortkörpers abzuschaffen, um in den anderen zu gelangen.
In meinem neuen Gedichtband Novalis im Weinberg (Ammann Verlag 2005) heißt einer der vier Hauptzyklen „Meine kleine Englische Suite“. Hier ist es vor allem Andrew Marvell (1621–1678), dem ich liebend gerne anhänge. An die Glühwürmer grüßt die Leuchtkäfer aller Poesie als Ahnung vom Ende, An seine Scheue Geliebte aber das scharfrichterliche Bewußtsein der Vergänglichkeit in allen Gedichten, mögen sie vom Weinberg oder von Petrarcas Sieben Leben sprechen. „An seine Scheue Geliebte“ ist ein dringlicher Appell zum Vollzug der Liebe jetzt und hier. „Die Schönheit Singt“ überblendet Schlachtfeld-Metaphern mit dem Feld der Liebe, Artillerie und Bezauberung durch die Augen und eine Stimme, die ohnehin das Wichtigste aller Poesie ist.