Novalis im Weinberg – Leseproben
GEDULD & KNORRIGKEIT
auf einer Stele am WEG DER GEDICHTE
in Edenkoben (Pfalz)
Künstlerhaus Edenkoben
Alle Bezauberung ist ein
künstlich erregter Wahnsinn
**METAMORPHOSEN, RAUHREIF
I
jeder Römer ist ein Weinstock geworden
wo sollen sie sonst alle hingekommen
sein die hier über die Hügel kraxelten
also hat sie ein Edenkobener Ovid in
fetten traubengroßen Metamorphosen
zu Weinstöcken verwandelt
dem blauen rauhen Himmel zum Beglotzen
überlassen!
II
schau sie dir an die silbrigen Legionäre
und knorrigen Stöcke mit den zwei knorpeligen
Armen am aufhelfenden Draht
wie sie schön aufgereiht dastehen
die Erfinder der Kastanien
die Rebenbesessenen
bis hinüber zum Heiligen Martin
der mit dem Schwert den Rauhreif
teilt den Mantel des Rebbergs
19. Februar 2003
**WINTER & EROS
der Weinberg ist der letzte
karge Winter-Erotiker
der lallt
küßt – höhnt – stöhnt
er hadert
der Weinberg meine Lebensader
eine untergegangene Sprache
die jedes Jahr neu aufblüht
aus dem Knorrigen die
Traube zaubert!
**FLOCKENLEBEN
Schnee in den Raben Schnee in den Reben
ganztags dichtfetzig und den Raum aufwirbelnd
jede Flocke ein Dichterleben und seltsam
menschlich laufpaßmäßig zwischen
Luftgeburt und Aufprall auf Teer
(deutlicher Februar)
Das Auge ist das
Sprachorgan des Gefühls
**ÜBER DIE WEINSEITEN
ich fülle den Laut in deinen Nabel Muse
in deinen Nebel Muse
es ist dein Ohr voller Blicke
das mir alles diktiert was ich immer sehe
deine beredsame Schlüsselbeinmulde fällt
mir ein der Triefenbach rosiger nichtiger
Wünsche
Augen bekommen Beine
laufen über die Weinseiten
nur das Warnschild kläfft
hier wache ich!
4. Februar 2003
Wir träumen von Reisen durch das Weltall:
ist denn das Weltall nicht in uns?
**TRAUMBUCH
nachts träume ich über
den Weinberg hinaus
das nächtliche Kopftheater hat nur einen
winzigen Zuschauer
mit schwer verschlüsselten Augen
er beobachtet ein wasserklares
Zirkus-Geschehen in dem er sich
selbst begegnet ein irrer Jongleur
seine immergrünen immerblauen
Trauben im Schnee
seines einzelnen Schlafs
Unsere Seele muß Luft sein
weil sie von Musik weiß
und daran Gefallen hat
**EIGENSINN
was ich mit dem Weinberg so alles
berede wenn er über meine Schulter
gebeugt ins Notizheft kritzelt
die Poesie ist Selbst-Weinberg
das Stimmenarsenal der Rebstöcke
Solos und Chöre
ganze Reihen
sing-sing mein Sinn!
schon von der Rebstockerziehung
gehört? schwer erziehbar wie die Poesie
wo geht sie?
Hin? o ewig
störrische Rebenranke
danke!
**GEDULD & KNORRIGKEIT
so lange Kahlheit Knorrigkeit
Ausharren mit auseinander
gereckten Armen (am Draht!)
soviel Kälte und Schweiß
soviel Zertretenes Gepreßtes
soviel später Triumph
der Weinberg dichtet
im Schlaf zu Pferd
seine scheue
Beduinenpoesie!
**PETRARCA SCIENCE-FICTION
er segelt nach Solaris verwandelt sich in Kelvin
der denkende Ozean liebesliest den blühenden
geographischen Canzoniere in seinem Wachhirn
Hari wird Laura so verbringen sie
ihr Viertelchen römisches Altertum
rösten Kastanien auf simpeln Feuern
aus Lorbeerkränzen aus Nachruhm und
Bettgeräusch und Plunder
sie spielen Sonett
sie werden zeitlos aber
voller Runzeln denkende Längenkreise
Globen des italienischen Körpers
sie haben Stiefel aus Renaissance
sie haben ihr Museum aus Haar
sie haben Feuer aus Lorbeer
wenn du wie ich
sie haben schrille glückliche Laternen
so sitzen sie abends vormittags
vor den Luken ihres langgläubigen Ozeans
die Fetzen ihrer Jugend verspätet vergeudet
selig von Sinnen immer und ewig ledig
sie werden sich zur Weltkugel
sie zielen mit sich auf die Nachwelt
so! und so!
**PETRARCA IN SIBIRIEN
Laura eine Göttin des einheimischen
Frostes irre Schamanin
mit der Häute-Trommel wir nennen sie
Kuckuckweibchen sie schultert uns wie die Riemen
wie Totholz aus eisigen Flüssen
voller Gedächtnis und Fisch
wir starben wieder mit ihrem Geheul
ins Leben zurück sie schmierte uns mit
dem Kraut der Nacht die Wundverse und Rentiere
leckte uns das Salz aus den falschen Locken
und sanft das Eis der fremden Hand
ein Taiga-Prinzeßchen eine süße Brücke
ein Süß-Most über den Frost
sie nennen ihn: Flüstern der Sterne
in mein-dein Glühherz
heiligeilig
(auf dem Plakat durchs Zugfenster
deutlich prahlend Körperwelten:
die Faszination des Echten)
**PETRARCA RAUCHSCHWALBE
er ist der Vogel des Jahres 2004
er gilt als Glücksbringer für Haus und Hof
aus West- und Zentralafrika kehrt er zurück
an die Brutplätze des Vorjahres
sein Africa in der Tasche
in Ställen und Scheunen jubeln sie
über seine scheue Literatur
er jagt im Flug oft knapp über dem Boden
sein Bestand nimmt stetig ab
er & Laura ein Rauchschwalbenpärchen
sie sammeln Nistmaterial Sonette
sie wollen Pfützen zum Trinken
er ist die Botschafterin des Jahres
für die Förderung der kleinen Reviere
Hecken-Haus-Hof
Ställe in denen Rauchschwalben brüten
werden dieses Jahr mit der Petrarca-Plakette
ausgezeichnet! Anima bella, da quel nodo sciolta,
Che piú bel mai non seppe ordir Natura