SELBER AUSLAND UND ANDERSWO
GAZZETTA
Organ der ProLitteris (Schweizerische Urheberrechtsgesellschaft für
Literatur und bildende Kunst), Nr. 47, Zürich 2010 (Spezialnummer:
„Im Ausland. All'estero. A l'étranger. Schweizer Künstler im Ausland“)
( Übersicht)
( Übersicht)
Ralph Dutli
Selber Ausland und Anderswo
Vielleicht habe ich es mir immer nur eingeredet: Ich habe das Emigrieren im genetischen
Programm. Gibt es ein Gen, das einen veranlasst, irgendwann die Koffer zu packen?
Oder ist das nur ein genetisches Geflunker? Tatsächlich bin ich zweimal ausgewandert,
Emigrant im Doppelpack: von meinem Geburtsort Schaffhausen und dem Studienort
Zürich 1982 nach Paris, dann, zwölf Jahre später, nach Heidelberg. Es gibt exotischere
Exile für Schweizer Autoren zwischen Nepal und Patagonien. Ich bin nur ein im Stillen
Bücher machender Eigenbrötler, Sprachreisender, Poesiepatient. Von Heimat rede ich
lieber selten oder nie.
Zurück zum genetischen Programm: Meine Vorfahren waren mausarme italienische
muratori, also Maurer, die in die Schweiz einwanderten. Der Vater meiner Mutter war
Italiener, die Mutter meines Vaters Italienerin. Gastarbeiter eben, und beide entschieden
sich je für einen Schweizer, eine Schweizerin. Meine Emigranten aus Cremona und
Auronzo-Misurina stelle ich mir noch oft vor, ärgere mich, dass ich so wenig von ihnen
weiß, versuche ihnen im Traum zu erklären, was ich gerade schreibe. Meine hoffnungslos
schriftlichen Mäuerchen halt, schwer ins Lot zu bringen mit dem Senkblei meiner muratori.
Streicht man beim Mäuerchen nur wenig, wird ein Märchen daraus.
Als beidseitiger helvetisch-italienischer Zopf bin ich 1982 nach Frankreich ausgewandert,
um dort, in der Pariser Stille, über Jahre hinweg unter anderem das Werk eines russisch-
jüdischen Dichters, Ossip Mandelstam, ins Deutsche zu bringen, der zu alledem noch mit
durchtriebener Ironie geschrieben hat: „Und vielleicht schon in dieser Minute / überträgt
mich ins türkische Wort / ein junger Japaner, der gute – / begriff meine Seele sofort.“ Ich
hatte vielleicht einfach Lust, für eine ganze Weile meines Lebens ein junger Japaner zu
sein. Meine französische Liebste fand es nicht abwegig, und ich war verblüfft. Ein Glück
war auch meine Begegnung mit dem Verleger Egon Ammann, der ein genauso
begeisterter Phantast war und Ehrenbotschafter bleibt in meiner imaginären „Ambassade
de la Poésie“. Es war wunderbar, mit ihm Projekte auszuhecken, die den Alltag
verscheuchten und mich psychisch über die Wellentäler trugen.
Poesie ist selber ein dauerndes Ausland und Anderswo, auch wenn es hier stattfindet. Sie
ist die permanente Einübung ins Exil, eine durchtrieben sinnreiche Eingewöhnung in ein
elastisches Anderswo, wo man sich (wo der Text sich) neu einnisten muss. Und dabei
dringt man so tief in die eigene Sprache ein, wie man es sich nie hätte träumen können.
Ich kann mir kein besseres Exil vorstellen: überfremdet zu werden von anderen Sprachen,
anderen Epochen, von der Mund-Art der Poesie. „Die sogenannt eigenen Gedichte sind
mir nicht eigener und näher als die vermeintlich fremden und fernen, die ich in meine
Sprache übertragen habe. Ich werde von gewissen Texten bewohnt, das ist alles. Ob
eigene, ob fremde, ist gleich-gültig“ (in: Nichts als Wunder). Wichtiger als jede Nationalität
ist mir das, was ich mit der Sprache anstelle in einem eminent erotischen Verhältnis. Und
wo ich die Poesie als Lebensweise praktizieren darf, da bin ich auch auf merkwürdige Art
zu Hause. Aber: Mein Auslandschweizerdasein ist ein Luxus-Exil, nicht von politischer
Repression oder Flucht vor bitterer Dritte-Welt-Armut veranlasst.
Ich hatte in Zürich und Paris französische und russische Literatur studiert und sollte 1981
für ein Jahr nach Moskau, um für meine Schlussarbeit zu recherchieren, bekam aber kein
Visum für Russland (weil ich damals verbotene Dichter ins Deutsche übertrug). Es war vor
Gorbatschows Enteisungsaktion. Ich fuhr dann 1982 statt ostwärts – westwärts, wieder
nach Paris, wo ich schon 1976/1977 ein Jahr verbracht hatte. Wieder für ein Jahr, wie ich
glaubte. Es wurden zwölf daraus.
Meine persönlichen „Gedächtnisorte“: 37, Rue de la Tombe-Issoire, wo ich damals lebte,
ein paar bescheidene Meter über den Pariser Katakomben, an dem Ort, wo laut
mittelalterlicher Legende der erschlagene Riese Isoré seinen Grabhügel hatte. Ab und zu
bin ich dort statt dem sarazenischen Riesen dem vogelköpfigen Samuel Beckett auf dem
Trottoir begegnet, der ganz in der Nähe wohnte, am Boulevard Saint-Jacques. Ich habe
ihn nie angesprochen, wollte ihn nicht belästigen. Tat so, als wüsste ich nicht…
Die nächste meiner Wohnadressen war die Rue de Grancey, in unmittelbarer
Nachbarschaft zur Rue Daguerre mit ihrem Fischhändler, üppigem Käse, einer Fülle von
Früchten. Aber eben auch in der Nachbarschaft des Friedhofs Montparnasse, auf dem ich
so oft umherpilgerte und herumtigerte, wenn die Arbeit stockte oder wenn ich Luft
brauchte. Eine Oase der klangvollen Stille. Der Friedhof ist ein Stimmenchor, ich habe es
in meinem Gedicht „Wer schenkt was wem“ versucht festzuhalten: „Hitchcock vorab
Gogol das Fenster / zum Friedhof: Montparnasse! / Wer Seelen hat hat Selbstgebranntes
/ Baudelaire seucht unter Stiefvätern / o Generäle: die Armen der Welt! / ein Lichtpicknick
legt sich jetzt drüber // der Troubadour ist elektrisch ich trete / jetzt in einen Liebes-Chor
sagte ich / dummer Apostel und brannte // das Licht mampft jetzt unsterblich“ (in:
Notizbuch der Grabsprüche).
Es gibt auf diesem Friedhof die merkwürdigsten Gräber. Zum Beispiel jenes eine ohne
Geburts- und Todesjahr und anonyme, auf dessen schwarzem Stein nüchtern zu lesen
steht: „La vie ne meurt pas“ (Das Leben stirbt nicht). Für mich ein stiller und energischer
Imperativ, über dem Gespräch mit den Toten die Leitung zum Leben nicht zu verlieren.
Wie lyrisch der Grabspruch des in Paris gestrandeten Peruaners César Vallejo, eines
meiner Lieblingsdichter: „J'ai tant neigé pour que tu dormes“ (Ich habe soviel geschneit,
damit du schlafen kannst). Baudelaire muss in letzter Unbehaustheit im Grab seines
verhassten Stiefvaters liegen, des Général Aupick, doch bekommt er dafür noch immer
Blumen von ungefähr Achtzehn- bis Dreiundzwanzigjährigen und Botschaften in
japanischen Schriftzeichen. Das Lichtpicknick in meinem Gedicht – kommt es von
Aupick? Wenn man das nachher noch wüsste. Und schräg gegenüber das Grab Chaim
Soutines, eines Lieblingsmalers, über dessen letzte zwei Lebenstage ich gerade einen
Roman schreibe. Entdeckt hatte ich ihn 1989 bei einer Ausstellung in Chartres. Meine
kluge Muse sah das Plakat in der Metro und flüsterte: Da sollten wir hin.
Die Pariser Wohnungen waren bizarr, ein winziges Halbdunkel, aber es war weiß Gott ein
Glück, dort zu leben. Meine Freundin und Frau arbeitete in der Bibliothek der
Filmhochschule, wir waren jung und sagenhaft sorglos. Die materielle Unsicherheit war
abenteuerlich, aber es war das einzige Leben, das uns lohnend erschien. Natürlich weiß
ich inzwischen, dass jede Freiheit ihren Preis hat, und dass sie manchmal in bisher
unbekannten Währungen und mit der Münze der Schlaflosigkeit bezahlt sein will. Wer
aber einmal die Wahl hatte, darf sich später nicht wundern… „Poesie ist ein Luxus, doch
ein Luxus, der so lebensnotwendig ist wie Brot und manchmal genauso bitter“ (Ossip
Mandelstam).
Die Wohnung konnten wir nur schwarz mieten, ohne Vertrag und Quittung, jeden Monat
durften wir bei der freundlichen und weitgereisten Vermieterin auftauchen, lieferten das
Lösegeld von Hand zu Hand. Ich war dankbar für diesen Pariser Parallelmarkt. Wollte
man regulär eine Wohnung mieten, hatte man Lohnausweise für die letzten vier Monate
vorzulegen, die Miete durfte nur ein Drittel eines tollen und fabelhaften Gehalts
ausmachen, und man musste mehrere Garantien vorlegen. Ich habe aber in meinem
Leben noch nie ein Gehalt gehabt und weiß nicht, wie Lohnausweise aussehen.
Garantien? Woher auch. „Poesie ist eine kosmische und komische Anti-Börse, der
dauernd inszenierte Totalverlust aller Gewissheit“ (in: Nichts als Wunder). Kleine
Glücksfälle, zufällige Begegnungen, verschwiegene Parallelwelten waren
überlebenswichtig.
Noch eine Erinnerung: in der Normandie, die Steilküste mit Kiesstrand zwischen Dieppe
und Varengeville, wo ich einmal fast ertrunken wäre. Wir hatten es versäumt, die Ebbe-
und-Flut-Tabellen, die in der Bäckerei aushingen, zu befragen. Ich glaubte, das Meer
sinke. An der vertikal abfallenden Kreideküste, den „falaises“, führt kein Weg nach oben,
der Kiesstrand ist der einzige Weg, man muss ihn bis zum Ende gehen, bis nach
Varengeville. Plötzlich sagte meine Begleiterin: „La mer monte!“ Ich behauptete nur sehr
kurz das Gegenteil, dann begannen wir zu laufen – nichts wie zurück! Vielleicht sind wir
noch nie so schnell gerannt. Als wir keuchend in Dieppe ankamen, schlugen die ersten
Wellen gleich hinter uns an den Kreidefels. Die Gedichte „Weg nach Varengeville“ und
„Jod & Kreide“ in meinem Band Notizbuch der Grabsprüche sind damals entstanden:
„endlich auch seine Briefmarke gesehen / luftgeschneidert / die Zacken sind Salzkristalle
// und hinter einem Kreidefelsen lag / mein früheres Leben / ein junger toter Rochen / von
der Flut über den Stein / geblättert und vom wahnsinnig / wegsinkenden Meer verlassen //
später kam es als Junge über den Strand / in jeder Hand am langen Ende baumelnd / ein
junger toter Rochen // zwei sind es zwei oder keins // und wieder wie der / Kies am Meer“.
Zwei Leben sind es also, wieder Doppelpack. Nach zwölf Jahren in Paris kam ich 1994
nach Heidelberg, zunächst für ein Jahr, mit einem Humboldt-Stipendium. Ich gehe immer
für kurz und bleibe dann länger. Geblieben bin ich, um meinem damals gerade geborenen
Sohn Boris keine Pariser Luft zuzumuten, keine fransende, tötelnde Metro-Süße. Paris
war herrlich, aber lieber ohne Kind. In Heidelberg gefällt es mir gut, es gibt freundliche
Menschen und Bücherfreunde, Frankreich ist nah, die Schweiz nicht fern. In Jakob
Köllhofers legendärem „DAI“ (Deutsch-Amerikanisches Institut) gab es plötzlich mehr
Weltpoesie zu erleben, als ich irgendwo sonst gehört hatte. Und ich freue mich, wieder im
deutschen Sprachraum zu leben.
Zum Schweizer Dialekt habe ich ein zwiespältiges Verhältnis. Ich kann die
hypersentimentale Beziehung vieler Schweizer zu diesem Idiom nicht nachvollziehen, es
ist für mich kein gemütvolles Gespräch mit der vermeintlich heilen Kindheit, die wenig
heiter war. Und das scheinbar Identität stiftende Misstrauen dem Hochdeutschen
gegenüber kann ich erst recht nicht verstehen, es ist mein geliebtes Instrument, wenn ich
schreibe. Der Dialekt mauert mich ein, und Deutsch ist eine weite, musikalische und
ausdrucksstarke Sprache (mit meiner Familie spreche ich Französisch). Abschottung und
Isolationismus, selbst als Dialekt praktiziert, sind keine Verfahren der Energie, die mir
Poesie bedeutet.
Nach den Gedächtnisorten Montparnasse, Normandie und Katharerland im Süden,
Nordafrika und allerlei Reisezielen, an die das Mittelmeer schwappt, heißen sie jetzt in
Heidelberg Philosophenweg und Odenwald, es sind grüne Baggerseen und liegen in
Orten wie Heddesheim und Altlussheim. Dann gibt es die anders vergehende Zeit in den
Pfälzer Weinbergen, wo ich im Winter die Gedichte meines Bandes Novalis im Weinberg
geschrieben und meine Mandelstam-Biographie Meine Zeit, mein Tier abgeschlossen
habe. In Edenkoben, am „Weg der Gedichte“, soll ab nächstem Herbst auch eins meiner
Gedichte auf einer Glasplatte mitten im Weinberg stehen, Titel: „Geduld & Knorrigkeit“.
Auch Lappalien stiften Identität.
Vor kurzem sind die Erinnerungen an meine erste Emigration energisch aufgefrischt
worden. Ein guter Freund von damals und heute, Antoine Jaccottet, der Sohn eines
anderen Dichters und Exil-Schweizers, hat 2009 in Paris einen Verlag gegründet („Le
Bruit du temps“) und sich in den Kopf gesetzt, eine zweisprachige Auswahl meiner
Gedichte herauszubringen, übersetzt von mir und meiner Frau. Im Sommer noch feilte ich
mit Antoine an den Texten, wieder in der Normandie, auf der Halbinsel Cotentin, die für
mich eine wichtige Landschaft bleibt. Im Dezember stellten wir das Buch in Paris vor, in
der „Maison de la Poésie“ an der Rue Saint-Martin (Passage Molière). Novalis au vignoble
et autres poèmes: Das Buch ist mein Phantasie-Pass im Grenzverkehr zwischen der
Schweiz, Frankreich und Deutschland. Seine beiden Sprachen sind meine. Es kamen
manche alte Freunde zu der Lesung, was mein Gedächtnis rührte: Das Vergangene
versammelt sich plötzlich in freudiger Erwartung, um den Texten zu lauschen, die ohne es
anders klingen und aussehen würden.
Meine Arbeitsorte, ob in Paris oder Heidelberg, sind chaotisch. Ich liebe die Unordnung
von Blättern, Büchern, Manuskripten, es ist eine Einladung, eine mögliche poetische
Ordnung zu finden. Wäre alles wohlaufgeräumt in meinem Leben, wäre der Zugriff meiner
Schreibhand überflüssig. Ein Geständnis: ich kann keine Fotos machen. Es ist nie was
darauf oder sicher das Falsche. Ich beauftrage also meinen dreizehnjährigen Sohn
Olivier, der mehr davon versteht, die vier gewünschten Fotos zu machen. Wir wohnen
„unterm Dach“ am Fuß des Heiligenberges. Ein wunderbar verwinkeltes, eigenwilliges
Haus. Es sollte einmal eine Klinik werden am Ende des 19. Jahrhunderts, die aber nie
eröffnet wurde. Unterm Dach die Mansarden der Krankenschwestern, die irgendwann von
einem klinischen Metamorphosengott zu einer Wohnung umgemodelt wurden. Ich nenne
das Gebäude manchmal mein Krankenhaus der Musen, in dem ich als entzückter Patient
wohne.
Inzwischen ist mein Leben im Ausland länger geworden als mein Leben im Inland. Es
dehnt sich und wird vielleicht noch ein bisschen länger werden. Aber ich kann nichts
anderes als schreiben und damit dauer-emigrieren – in Texte. Und das am liebsten
anderswo als am Ort, wo ich geboren wurde. Wo ich fremd bin, ist fast gleichgültig. Die
Leine, die einen ein Leben lang mit dem Ursprungsort verbindet, ist allmählich mit dem
Älterwerden länger und lockerer geworden. Eine gewisse gesunde Entfernung zum
Kindheitsörtchen stellt sich ein. Heitere Distanz, ohne Reue, Ressentiment. Man wird
ohnehin erst viel später, was man ist. Ob mich manchmal noch ein sanftes Glücks- oder
Schamgefühl – wer entdeckt endlich die verwandtschaftliche Beziehung der beiden –
überkommt, wenn ich an die Schweiz denke? Sie ist mir nicht völlig gleichgültig geworden,
nur nimmt das Denken an sie in meiner Lebenszeit weniger Raum ein, der Angeleinte
verschwindet halb schon frei hinterm Horizont. Exil ist immer doppelt. Einmal im Leben,
einmal im All, mal Zeit, mal Raum, einmal wirklich, einmal im Traum.
Nichts als Wunder
Romanautor, Lyriker,
Essayist, Biograph,
Übersetzer und Herausgeber